Der zaghafte Aufschwung der deutschen Wirtschaft gerät ins Stocken: Nachdem das Bruttoinnlandprodukt 2023 um 0,3 % geschrumpft ist,1 geht nun auch die Industrieproduktion aller Branchen im Januar 2024 im Vergleich zum Vorquartal zurück.2 Deutschlands Unternehmen müssen sich mit verschiedenen geo- und gesellschaftspolitischen sowie wirtschaftlichen Herausforderungen auseinandersetzen, während die Auswirkungen der Corona-Pandemie nach wie vor die Belegschaften und Betriebsabläufe beeinträchtigen.
Währenddessen bleibt der deutsche Arbeitsmarkt trotz Wirtschaftsflaute weiterhin recht robust – was dazu führt, dass Unternehmen sich neben der langen Liste an bestehenden Herausforderungen bemühen müssen, ihre Mitarbeitenden zu binden, um den Aufschwung anzukurbeln. Die jüngsten Daten von Gallup zeigen, dass fast die Hälfte der Arbeitnehmenden (45 %) entweder aktiv auf Arbeitssuche oder offen für Neues ist – der höchste bisher gemessene Wert, der auch deutlich über dem 2022 ermittelten Ergebnis für Europa liegt (34 %).
Diese Daten stammen aus dem Bericht zum Gallup Engagement Index Deutschland 2023.
Verbesserungsbedarf beim Binden und Rekrutieren von Talenten
Auf Deutschlands Arbeitsmarkt herrscht ein „harter“ Wettbewerb: Viele Arbeitnehmende sind offen für Neues. Sieben von 10 Beschäftigten (71 %) rechnen sich gute Chancen aus und jede vierte Person berichtet, in den letzten 12 Monaten von einem Headhunter/einer Headhunterin kontaktiert worden zu sein.
Es ist wenig verwunderlich, dass ein derart „starker“ Arbeitsmarkt sich auf die Mitarbeiterbindung auswirkt. Etwas mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmenden (53 %) stimmen der Aussage vollständig zu, dass sie in einem Jahr noch für ihren derzeitigen Arbeitgeber tätig sein möchten. Damit setzt sich ein fünfjähriger Abwärtstrend fort, denn 2018 waren es noch 78 %, die dieser Aussage uneingeschränkt zustimmten. Der mittelfristige Trend sieht ähnlich besorgniserregend aus: Während 2018 noch 65 % aller Arbeitnehmenden angaben, in drei Jahren noch für ihren gegenwertigen Arbeitgeber tätig sein zu wollen, ist diese Zahl über die Jahre hinweg konstant gesunken und hat sich mit der letzten Gallup-Befragung bei 40 % eingependelt.
Deutschlands stark umkämpfter Arbeitsmarkt und der anhaltende Fachkräftemangel machen das Rekrutieren von neuen Mitarbeitenden teurer, komplexer und zeitaufwändiger. Zwei von fünf Mitarbeitenden (38 %) stimmen der Aussage vollständig zu, dass Ihr Unternehmen große Schwierigkeiten hat, den Bedarf an geeigneten Fachkräften zu decken. Dieser Wert fällt beinahe doppelt so hoch aus wie 2013 (18 %). Außerdem sind nur 16 % überzeugt, dass ihr Unternehmen in der Lage ist, die besten Talente anzuziehen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit brauchen Unternehmen heute durchschnittlich 160 Tage, um eine Stelle mit einer qualifizierten Fachkraft zu besetzen. 2022 lag dieser Wert noch bei 145 Tagen, vor zehn Jahren bei lediglich 77.
Sind die Hürden des Findens und Einstellens neuer Personen einmal überwunden, sehen sich deutsche Unternehmen vor der nächsten Herausforderung: die neuen Mitarbeitenden zu halten. Vier von zehn Arbeitnehmenden, die in den letzten 12 Monaten eingestellt wurden, sind bereits wieder offen für Neues. Unter ihnen geben weniger als die Hälfte (48 %) an, dass sie in einem Jahr noch für ihren aktuellen Arbeitgeber tätig sein möchten, und nur 29 % stimmen vollständig zu, dass sie ihren neuen Arbeitgeber Personen in ihrem Freundes- und Familienkreis weiterempfehlen würden.
Emotional gebundene Mitarbeitende bleiben Unternehmen treu
Wenn das Fluktuationsrisiko steigt, sinkt die emotionale Mitarbeiterbindung. Der Anteil der Mitarbeitenden ohne emotionale Bindung in Deutschland ist der höchste seit 2012: Knapp ein Fünftel der deutschen Arbeitnehmenden (19 %) hat innerlich gekündigt, weil ihre Bedürfnisse an ihren Arbeitsplatz nicht erfüllt werden und sind ihrem Unternehmen dementsprechend nicht treu. Gallups Berechnungen zufolge führt dieser Mangel an emotionaler Bindung für Deutschlands Wirtschaft zu Produktivitätsverlusten zwischen 132,6 und 167,2 Milliarden Euro.
Hingegen gelten nur 14 % von Deutschlands Mitarbeitenden als „emotional hoch gebunden“, was bedeutet, dass sie bei der Arbeit eine Führung erleben, die in emotionaler Bindung resultiert. Dieser Wert war nur 2011 niedriger und liegt einen Prozentpunkt über dem Ergebnis von 2022. Zwei Drittel von Deutschlands Beschäftigten (67 %) weisen eine geringe emotionale Bindung an ihren Arbeitsplatz auf und machen „Dienst nach Vorschrift“.
Emotionale Mitarbeiterbindung ist eine Voraussetzung für das Erreichen von Unternehmenszielen wie Produktivität, Rentabilität, Qualität, Arbeitssicherheit, Kundenloyalität, weniger Fehlzeit und geringere Fluktuation. Gallup definiert emotionale Mitarbeiterbindung als die Bereitschaft der Mitarbeitenden, sich aus freien Stücken für ihren Arbeitgeber und dessen Ziele einzusetzen – anders ausgedrückt mit Hand, Herz und Verstand bei der Arbeit zu sein. Es handelt sich also um die Leistungsbereitschaft, die von den Mitarbeitenden selbst ausgeht. Dabei geht es nicht darum, dass Arbeitnehmende für ihre Arbeit leben; viel eher entsteht eine hohe emotionale Bindung durch die Qualität der erlebten Führung und der damit verbundenen Erfüllung von zentralen Bedürfnissen bei der Arbeit, etwa wenn Erwartungen geklärt werden, die Führungskraft angemessene Unterstützung anbietet, Möglichkeiten zur Fort- und Weiterbildung vorhanden sind, bei der Arbeit das Knüpfen von bedeutungsvollen Beziehungen ermöglicht wird oder die Mitarbeitenden sich mit der Philosophie des Unternehmens verbunden fühlen.
Emotionale Bindung schützt auch vor Fluktuation: 79 % von Deutschlands emotional hoch gebundenen Mitarbeitenden geben an, in einem Jahr noch bei ihrem aktuellen Arbeitgeber tätig sein zu wollen. Dasselbe trifft nur für 53 % der Arbeitnehmenden mit geringer emotionaler Bindung und 31 % der Mitarbeitenden ohne emotionale Bindung zu. Emotional hoch gebundene Mitarbeitende planen außerdem häufiger als gering oder nicht gebundene Arbeitnehmende, in drei Jahren noch für ihren aktuellen Arbeitgeber tätig zu sein. Außerdem geben sie weniger häufig an, aktiv auf der Suche nach einer neuen Stelle zu sein.
Emotional hoch gebundene Mitarbeitende sind wertvolle Markenbotschafter, vor allem für Unternehmen, die alles Erdenkliche tun, um Talente anzuziehen. Mitarbeiterempfehlungen sind in einem hart umkämpften Arbeitsmarkt besonders wichtig, weil Empfehlungen von Personen aus dem Freundes- und Familienkreis eher vertraut wird als klassischen Personalmarketingmaßnahmen oder Stellenanzeigen. 63 % der emotional hoch gebundenen Arbeitnehmenden würden ihren Arbeitgeber Freunden und Familienmitgliedern ohne Wenn und Aber weiterempfehlen. Nur 14 % der Arbeitnehmenden ohne emotionale Bindung würden dasselbe tun.
In einer Zeit des Arbeitskräftemangels kann gute Personalführung für Deutschlands Unternehmen zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden. Emotional hoch gebundene Mitarbeitende können den Fachkräftemangel nicht wettmachen, aber sie können die Auswirkungen abfedern: Sie sind häufiger loyal, empfehlen ihren Arbeitgeber öfter weiter, leisten im Durchschnitt bessere Arbeit und sind in der Regel produktiver, was wiederum Kosten senkt und Rentabilität steigert. Die 86 % an emotional gering oder nicht gebundenen Mitarbeitenden stellen damit ein beachtliches ungenutztes Potenzial dar.
Hohe emotionale Bindung ist möglich
Hin und wieder wird Deutschlands Kultur als Erklärung für das konstant niedrige Niveau an emotionaler Mitarbeiterbindung herangezogen. Dieses Argument hält jedoch angesichts der Tatsache, dass sich viele Unternehmen diesem Trend widersetzen, nicht stand. Wäre eine niedrige Bindung unvermeidlich, würden nur sehr wenige deutsche Unternehmen in der Lage sein, eine erfolgreiche Arbeitsplatzkultur zu schaffen. Unternehmen, die sich gezielt darauf konzentrieren, die Qualität der erlebten Führung und des Arbeitsumfeldes strategisch zu verbessern, erreichen im Durchschnitt eine emotionale Mitarbeiterbindung von 40 % (Gesamtbevölkerung: 14 %). Best-Practice-Unternehmen binden im Durchschnitt 63 % ihrer Mitarbeitenden – mehr als vier Mal der nationale Durchschnitt. Diese Ergebnisse zeigen, dass der niedrige Landeswert in keinem Fall als gegeben hingenommen werden sollte.
Befragungsmethodik
Die Ergebnisse basieren auf Telefoninterviews (CATI), die vom 20. November bis 22. Dezember 2023 unter 1.500 zufällig ausgewählten abhängig Beschäftigten (18 Jahre und älter) in Deutschland durchgeführt wurden (Dual Frame: Festnetz- und Mobilfunkstichprobe; zufällige Auswahl von Telefonnummern, zufällige Auswahl der Zielperson im Haushalt mittels Geburtstagsverfahren bei mehr als einer relevanten Zielperson pro Haushalt). Die Stichprobe wurde nach Geschlecht, Alter, Bundesland, Beruf, Beschäftigungsstatus (Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung) und Anzahl der Arbeitnehmenden im Haushalt gewichtet. Die demografischen Gewichtungsvorgaben basieren auf den zuletzt veröffentlichten Daten des Statistischen Bundesamtes in Deutschland.